
«Massacre du printemps»
Die Premiere von Igor Strawinskys Ballett «Le sacre du printemps» war einer der grössten Skandale der Musikgeschichte.
Diejenigen, die sich eine Karte für die Uraufführung von Strawinskys Ballett «Le sacre du printemps» am 29. Mai 1913 im Pariser Théâtre des ChampsÉlysées gekauft hatten, ahnten sicher nicht, dass sie sich damit mehr oder weniger in Gefahr begeben würden. Denn die Darbietung forderte ganze 27 Verletzte! Was war geschehen? Schon nach den ersten Takten hatte sich Unruhe verbreitet, dann Geschrei – und schliesslich kam es zu einer handfesten Schlägerei. Es war so laut, dass die Tänzer*innen das Orchester nicht mehr hören konnten.
Der deutsche Publizist Harry Graf Kessler schilderte die Szenerie so: «Und über diesen Höllenlärm gingen immerfort wie Sturmgewehre Lachsalven und gegnerisches Klatschen, während die Musik weiter wütete und auf der Bühne die Tänzer unentwegt und prähistorisch tanzten. Am Schluss der Vorstellung schlug sich Welt und Halbwelt aufs Haupt.» Irgendwann wurde das Saallicht an- und ausgeschaltet, um die Massen zu beruhigen, die Polizei griff ein und Strawinsky floh hinter die Bühne. In den Worten von Claude Debussy geriet die Uraufführung des «Sacre» so zu einem «Massacre du printemps», einem «Frühlingsmassaker ».
Gestampfe statt Spitzentanz
Besonders die archaische, als obszön und barbarisch empfundene Choreografie von Vaslav Nijinsky für die Ballets Russes hatte wohl den Anstoss zur Empörung gegeben. Im «Sacre» wird in zwei Teilen ein rituelles Spiel dargestellt, dessen Kern und Ziel es ist, dass sich ein auserwähltes junges Mädchen in einem Opfertanz für den Frühlingsgott zu Tode tanzt. Aus diesem Grund trug das Werk ursprünglich den Titel «Das grosse Opfer».
Dabei waren keine eleganten und graziösen Bewegungen eines gewöhnlichen Balletts auf der Bühne zu sehen. Dies schilderte eindrücklich Nijinskys Schwester Bronislawa: «Die Männer im ‹Sacre› sind primitiv. Es gibt da etwas beinahe Bestialisches in ihrer Erscheinung. Die Beine und Füsse sind einwärts gedreht, die Fäuste geballt, und die Köpfe halten sie gesenkt zwischen hochgezogenen Schultern; ihr Gang, mit leicht gebeugten Knien, ist schwer, wenn sie sich mühselig einen Pfad hinaufkämpfen, hinaufstampfen durch das raue, hügelige Terrain. Auch die Frauen im ‹Sacre› sind primitiv, in ihren Mienen jedoch lässt sich bereits das Erwachen eines Bewusstseins von Schönheit wahrnehmen. Noch sind ihre Haltungen und Bewegungen linkisch und plump, wenn sie sich auf den höchsten Punkten der kleinen Hügel in Gruppen zusammenfinden und gemeinsam hinuntersteigen, um sich in der Mitte der Bühne zu treffen und eine grosse Masse zu bilden.»
Explosive Rhythmen
Die Musik des «Sacre» wird gerne mit der «Emanzipation des Rhythmus» gleichgesetzt, eine Bezeichnung, die sich an die «Emanzipation der Dissonanz » anlehnt, also an die Überwindung der Dur-Moll-Tonalität durch Schönberg (1908). Beim Hören wird klar, dass diese Zuschreibung berechtigt ist, denn derart komplexe rhythmische Strukturen finden sich in keiner Komposition vor dem «Sacre». Strawinsky verzichtete sogar oftmals auf eine wirkliche Melodie. Seine Musik, etwa der «Opfertanz», scheint bisweilen fast nur noch aus Rhythmus zu bestehen. Dementsprechend treten die Bläser und Streicher geradezu wie Schlaginstrumente in Erscheinung.
Dass dieser Rhythmus das Publikum zum Teil sogar in eine Art Trance versetzte, schilderte der US-amerikanische Fotograf und Autor Carl Van Vechten auf plastische Weise: «Ich sass in der Loge, vor mir drei Damen, hinter mir ein junger Mann. Die ungeheure Erregung, die sich seiner dank der unwiderstehlichen Wirkung der Musik bemächtigt hatte, äusserte sich darin, dass er anfing, mir mit seinen Fäusten rhythmisch den Kopf zu bearbeiten. Eine Zeitlang habe ich die Schläge überhaupt nicht bemerkt. Als ich sie dann spürte, drehte ich mich um. Seine Entschuldigung war aufrichtig. Wir waren beide ausser uns geraten.»
Die archaischen Rhythmen sah Strawinsky in jenen «Bildern aus dem heidnischen Russland» verwurzelt, die er mit seinem Werk wiedergeben wollte. Entsprechend forschte er nach Ritualen slawischer Stämme und alten Volksliedern. Über das Rhythmische hinausgehend finden sich daher auch zahlreiche volkstümliche Zitate in seinem «Sacre». Ein gutes Beispiel dafür ist das hohe Fagott-Solo zu Beginn, das auf einer litauischen Melodie basiert. Nicht allen gefielen solche Rückgriffe: Camille Saint-Saëns etwa soll deswegen wutentbrannt eine Vorstellung verlassen haben.
Die Uraufführung des «Sacre» war einer der berühmtesten Skandale in der Musikgeschichte. Der Musik tat dies jedoch keinen Abbruch: Sie trat bald ihren Erfolgszug durch die Konzertsäle an. Die Choreografie von Nijinsky hingegen verschwand nach fünf Vorstellungen in Paris und drei in London für ein Dreivierteljahrhundert in der Schublade. Geradezu hellseherisch meinte Strawinsky nach der Premiere gegenüber der «New York Times»: «Zweifellos wird man eines Tages verstehen, dass ich einen Überraschungscoup auf Paris gelandet habe, Paris aber unpässlich war.»