Sol Gabetta (Foto: Julia Wesely)
Fokus-Künstlerin Sol Gabetta

Die Architektin am Cello

Sol Gabetta setzt sich konsequent für Werke ein, die sie und andere aus der Komfortzone locken. Solche Cello-Konzerte hat sie auch dabei, wenn sie nun als Fokus-Künstlerin nach Zürich kommt – 20 Jahre nach ihrem Debüt in unserer Série jeunes.

Ulrike Thiele

Es war der 20. Januar 2006, ihr erstes Rezital in der Tonhalle Zürich. Ein Ort, der Sol Gabetta schon damals viel bedeutete, denn in der Schweiz hatte sie studiert, hier gründete sie 2005 ihr eigenes Kammermusikfestival, hier wurden durch ihr Debüt 2004 beim Lucerne Festival mit den Wiener Philharmonikern international viele auf sie aufmerksam. «Wenn du als junger Mensch eine solche Chance bekommst, in diesen grossen Konzertsälen zu spielen und zum ersten Mal für ein Rezital das Programm wirklich selbst auszuwählen – das sind Momente, die vergisst du nie», sagt sie bei unserem Treffen. Es war ein Programm, das bereits viel Charakter zeigte, mit Werken von Schumann, Schostakowitsch, Rachmaninow und Ginastera. Herausforderndes und Mitreissendes von musikalisch Unangepassten aus verschiedenen Epochen, inklusive klingendem Gruss aus ihrer fernen Heimat Argentinien.

Der Puppenchor

Auch wenn sie seit so langer Zeit in der Schweiz fest verwurzelt ist, bleibt Argentinien der Ort, wo die Basis gelegt wurde – in einem spezialisierten Musik-Kindergarten. «Ich wollte stets etwas Neues machen: Zuerst sang ich im Kinderchor, da war ich noch sehr klein, 3 oder 4 Jahre alt. Danach habe ich mit Geige angefangen. Dann wollte ich Klavier spielen, dann Harfe. Mit 7 Jahren habe ich meinen ersten Wettbewerb mit dem Cello gewonnen, vom Preisgeld kaufte ich mir auch noch eine Klarinette.» Sol Gabetta sprudelt noch immer vor Begeisterung, wenn sie sich daran erinnert. Besonders gern habe sie aber mit ihren kleinen Keramik-Puppen gespielt: «Das war mein Chor. Wir haben geprobt. Jeden Tag. Jeden Morgen.» Dieses Spiel war für sie als Kind vor allem lustig. Doch sie spürte so bereits, dass sie etwas bewirken möchte, lieber selbst etwas gestalten will als von jemandem oder von äusseren Umständen bestimmt zu werden. «Dieser Wunsch hat sich erfüllt, denn als Solistin im Konzert oder in einem Cello-Rezital kann ich etwas kreieren – von 0 auf 100. Was, wann, wo. Ich kann die Zeit dehnen und verkürzen, je nachdem, was und wie ich spiele. Das ist faszinierend. Dann fühle ich mich wie eine musikalische Architektin. Und das gefällt mir sehr.»

Wie Schwestern

Dieser Freiheitsdrang, selbst zu gestalten, verbindet sie auf ganz besondere Weise mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja. Sie lernten sich eher zufällig kennen, in Zürich, Sol Gabetta war auf der Suche nach einer Geigerin, um ihr Duo mit Cello und Klavier für ein Konzert zum Trio zu erweitern. Daraus wurden unzählige Auftritte in so ziemlich jeder nur vorstellbaren Konstellation und Situation: «Sehr, sehr viel Kammermusik bis hin zu enormen Orchesterformationen. An Weihnachten und Neujahr, ohne Licht, mit richtig viel Licht oder mit Kerzen.» Es gibt kein Setting, das sie nicht schon zusammen erlebt hätten. Und genau deshalb, sagt Sol Gabetta, ist Patricia Kopatchinskaja für sie nicht nur eine musikalische Partnerin: «Sie ist wie eine Schwester, sie ist Familie.»

Patricia Kopatchinskaja, Sol Gabetta (Foto: Julia Wesely)

Nichts ist den beiden fremd, nichts zu verrückt. Auch wenn Sol Gabetta als Kind noch eher darauf bedacht war, «alles gut machen» zu wollen: Über die Jahre befreite sich zunehmend ihre rebellische Seite, die sie heute genussvoll mit Patricia Kopatchinskaja auslebt. Diese ist bekannt dafür, barfuss Grenzen zu überschreiten – und dafür lieben sie das Publikum und Sol Gabetta gleichermassen: «Mit ihr gemeinsam Programme zu machen ist sehr, sehr lustig. Denn sie steht für freies Denken, durch und durch. Und das fasziniert mich immer wieder aufs Neue.»

Wenn eine Idee zum Albtraum wird

Vor allem mit Blick auf das Duo-Repertoire gab die Geigerin immer wieder Impulse, unbekannte oder neue Werke von zeitgenössischen Komponist*innen zu spielen. Bei diesen Überlegungen kam die Idee auf, gezielt dazu aufzurufen, ein Duo für die beiden zu schreiben. «Patricia hat gesagt, vielleicht erhalten wir fünf oder sechs oder auch zehn Stücke. Dann teilen wir uns auf, schauen sie durch und entscheiden dann, was wir nehmen.»

Soweit der Plan. Doch es kamen 120 Einsendungen: «Es war eigentlich unmöglich, das alles zu sichten, denn wir hatten nur drei Tage Zeit. Es wurde ein Albtraum! (lacht) Wir haben 15 Stunden ununterbrochen mit den Instrumenten gearbeitet. Wir haben gelesen, studiert, gesungen, gesprochen ... » Denn die Streuung bei den Kompositionen war enorm gross, in Qualität und Wagemut gleichermassen – und reichte von etablierten Komponist*innen bis hin zu ganz jungen: «Es war faszinierend zu sehen, dass Patricias Talente die Leute dazu anregen, wirklich in neuen Formaten zu schreiben, neue Visionen zu haben. Denn sie hat keine Grenzen. Und das ist natürlich das Beste, was Komponist*innen passieren kann.»

Meisterwerk und Katastrophengefahr

Mit der gleichen innigen, aufrichtigen Begeisterung, mit der sie über ihre Duo-Partnerin spricht, schwärmt sie von jedem einzelnen Werk, das sie sehr bewusst für ihre Saison als Fokus-Künstlerin in Zürich ausgewählt hat. Schostakowitsch, der bereits bei ihrem Debüt seinen Platz gefunden hatte, nimmt dabei einigen Raum ein. Denn sein 2. Cellokonzert hat sie noch nie mit dem Tonhalle-Orchester Zürich gespielt, aber bei einem entscheidenden Konzert für ihre Karriere schon: 2004, beim Luzerner Debüt mit den Wiener Philharmonikern. «Leicht war es nicht, doch ich glaube, ich habe mir das Leben, vor allem was Musik anbelangt, immer ein bisschen komplizierter gemacht. Ich brauche das für mein Wachsen als Mensch, als Musikerin.»

Sol Gabetta entscheidet sich im Zweifel stets gegen den leichten Weg und für die Herausforderung. Darauf fusst sogar ihr grundlegendes Verständnis ihrer Kunst: «Nachdem ich solche Stücke gespielt habe, bin ich viel erfüllter. Nur dann habe ich das Gefühl, dass es überhaupt Sinn macht, noch eine Interpretation dieses Cellokonzerts hinzuzufügen.» Wie lohnend es gerade bei Schostakowitschs 2. Cellokonzert sein kann, sich der Aufgabe in verschiedenen Lebensphasen zu stellen, weiss sie aus eigener Erfahrung: «Bei diesem Werk, das so morbide beginnt, sind von Anfang an die Linien schwer zu finden. Man weiss gar nicht, wohin es führt. Wenn man das Konzert spielt, wenn man sehr, sehr jung ist, weiss man nicht so genau, was man damit machen soll. Man spielt es. Aber man ist noch sehr weit entfernt von dem, was das Konzert uns anbieten kann.»

13 Cellist*innen

Im September 2023 ist das Cello-Register des Tonhalle-Orchesters Zürich zusammen mit dem damaligen Fokus-Künstler Kian Soltani als eigenständiges Ensemble gestartet. Auch in dieser Saison spielt es wieder zwei Konzerte: eine Kammermusikmatinee mit Werken von Mozart und Wagner am 14. Dezember 2025 – und am 8. Juni 2026 ein Programm zusammen mit Sol Gabetta, das erst noch ausgetüftelt wird.

Wie weit entfernt vom Ideal eine Aufführung dieses Werks sein kann, musste Sol Gabetta schon mehrfach erleben. Das Konzert entwickelt seine Idee über eine grosse Strecke hinweg – und einmal hatte sie zwar ein Orchester hinter sich sitzen, war aber doch plötzlich allein auf weiter Flur: «Ich habe damals während des Konzerts 70 Prozent des Orchesters verloren. Sie spielten einfach nicht mehr, weil der Dirigent wahrscheinlich auch verloren ging.»

Idealkonstellation in Zürich

Für sie ist das natürlich kein Grund, die Schuld bei dem Werk zu suchen, sondern beim nächsten Mal an den Gegebenheiten zu feilen. Zum Beispiel nehme sie Noten mit, wenn ihr der Dirigent in der Generalprobe versichert, das werde dann im Konzert schon gut werden. Oder noch radikaler und einfacher: Das Stück kommt nur aufs Programm, wenn die Sterne günstig stehen. «Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich kenne ich seit so vielen Jahren. Und als ich das letzte Mal mit ihnen gespielt habe, war ich wirklich beeindruckt. Ich habe gedacht, wo und wann werde ich wieder so eine ideale Kombination finden? Dann machen wir jetzt diesen Schostakowitsch.»

Doch was bedeutet «ideal» für eine Cellistin wie Sol Gabetta, die in den letzten Jahrzehnten mit so vielen Top-Orchestern und ihren Chefdirigenten gearbeitet hat? «Ich liebe es, mit Orchestern und ihren Chefdirigenten zu arbeiten. Denn meistens hat man das Glück, dass nicht mehr drei Partner auf der Bühne sind, sondern nur zwei.» Für diese Rechnung bilden Chefdirigent und Orchester eine Einheit, die Solistin die zweite. Wenn diese beiden dann im Konzert perfekt zusammenfinden, spontan und gleichzeitig spüren, «in welche Richtung die Sachen sich bewegen müssen», dann ist das Ideal zum Greifen nah.

Allergieprävention

Ideale nicht preiszugeben, zumindest nichts unversucht zu lassen, scheint im Wesen von Sol Gabetta tief verankert zu sein. In diesen Werten wurde sie bestärkt von ihren Lehrern Ivan Monighetti und David Geringas. Besonders dankbar ist sie aber dafür, dass diese in den richtigen Momenten auch behutsam gebremst haben. Zum Beispiel bei Schumann: Dessen Cellokonzert hat sie sich erst vergleichsweise spät vorgenommen, auf Anraten ihres Lehrers.

«Das war wichtig, um nicht zu früh etwas Falsches zu machen damit. Denn ansonsten würde ich das Konzert nicht mehr spielen wollen, weil ich dann genug hätte. Tatsächlich wäre das wohl der Fall gewesen, da ich das Stück wahrscheinlich gar nicht richtig verstanden hätte.» Wenn sie heute selbst unterrichtet, ist sie häufig mit dem Gegenteil konfrontiert. Zu ihr kommen 20-jährige Studierende von anderen Lehrer*innen, bei denen erwartet wird, dass sie die Hauptwerke im Repertoire haben. «Sie spielen nicht schlecht, aber keines der Werke richtig gut. Das heisst, sie entwickeln fast eine Allergie auf dieses Repertoire. So werden die Kompositionen zu Studienstücken, dabei gehören sie zum Schönsten und Grössten.»

Schumann, Schostakowitsch, Lalo, Martinů – mit jedem ihrer Werke verbindet Sol Gabetta eine persönliche Reise. Sie kennt ihre Eigenheiten und beschreibt sie wie treue Weggefährten, denen sie etwas schenken möchte, aus Dankbarkeit. Sie verdienen «Zeit und Entwicklungskapazitäten » – und die gibt sie ihnen, in ihren Konzertarchitekturen auf der Bühne.

September 2025
Mi 17. Sep
19.30 Uhr

Saisoneröffnung mit Paavo Järvi & Sol Gabetta

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Sol Gabetta Violoncello Adès, Schostakowitsch, Rachmaninow
Do 18. Sep
19.30 Uhr

Saisoneröffnung mit Paavo Järvi & Sol Gabetta

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Sol Gabetta Violoncello Adès, Schostakowitsch, Rachmaninow
Fr 19. Sep
19.30 Uhr

Saisoneröffnung mit Paavo Järvi & Sol Gabetta

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Sol Gabetta Violoncello Adès, Schostakowitsch, Rachmaninow
So 28. Sep
17.00 Uhr

Kosmos Kammermusik: Patricia Kopatchinskaja & Sol Gabetta

Patricia Kopatchinskaja Violine, Sol Gabetta Violoncello Leclair, Widmann, Bach, Ravel, Bach, PatKop, Ligeti, Kodály
November
Do 20. Nov
12.15 Uhr

Orchester-Lunchkonzert mit Paavo Järvi

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Sol Gabetta Violoncello Schumann
Fr 21. Nov
19.30 Uhr

Gastspiel in Wien

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Sol Gabetta Violoncello Schumann, Mahler
Februar 2026
Mi 25. Feb
19.30 Uhr

Jaap van Zweden & Sol Gabetta

Tonhalle-Orchester Zürich, Jaap van Zweden Leitung, Sol Gabetta Violoncello Lalo, Bruckner
Do 26. Feb
19.30 Uhr

Jaap van Zweden & Sol Gabetta

Tonhalle-Orchester Zürich, Jaap van Zweden Leitung, Sol Gabetta Violoncello Lalo, Bruckner
Sa 28. Feb
18.00 Uhr

Gastspiel in Dortmund

Tonhalle-Orchester Zürich, Jaap van Zweden Leitung, Sol Gabetta Violoncello Lalo, Bruckner
Juni
Sa 06. Jun
18.30 Uhr

Andrés Orozco-Estrada & Sol Gabetta

Tonhalle-Orchester Zürich, Andrés Orozco-Estrada Leitung, Sol Gabetta Violoncello Strauss, Martinů, Tschaikowsky
So 07. Jun
17.00 Uhr

Andrés Orozco-Estrada & Sol Gabetta

Tonhalle-Orchester Zürich, Andrés Orozco-Estrada Leitung, Sol Gabetta Violoncello Strauss, Martinů, Tschaikowsky
Mo 08. Jun
19.30 Uhr

Sol Gabetta & Celloensemble

Sol Gabetta Violoncello, Celloensemble des Tonhalle-Orchesters Zürich, Paul Handschke Violoncello im Ensemble, Anita Leuzinger Violoncello im Ensemble, Rafael Rosenfeld Violoncello im Ensemble, Sasha Neustroev Violoncello im Ensemble, Benjamin Nyffenegger Violoncello im Ensemble, Christian Proske Violoncello im Ensemble, Gabriele Ardizzone Violoncello, Anita Federli-Rutz Violoncello im Ensemble, Ioana Geangalau-Donoukaras Violoncello im Ensemble, Sandro Meszaros Violoncello im Ensemble, Andreas Sami Violoncello im Ensemble, Mattia Zappa Violoncello im Ensemble, Floriane Bonanni Konzept
August 2025
Fr 29. Aug
19.30 Uhr

Gastspiel in Gstaad

Tonhalle-Orchester Zürich, Paavo Järvi Music Director, Sol Gabetta Violoncello Schostakowitsch, Rachmaninow
veröffentlicht: 13.08.2025