Olivier Latry (Foto: Son Sung-Joo)
Interview mit Olivier Latry

«Das Echo ist anders als früher»

Olivier Latry, einer der Titularorganisten von Notre-Dame, gibt im Juni 2025 sein Debüt bei uns. Im Interview erzählt er von seiner Pariser Orgel, der Kunst des Improvisierens und seiner Programmwahl.

Interview: Franziska Gallusser

Sie sind seit 1985 einer der Titularorganisten der Kathedrale Notre-Dame in Paris. Die Orgel wurde bei dem Brand von 2019 nicht allzu sehr beschädigt, aber Sie konnten fünf Jahre nicht darauf spielen. Hat Ihnen etwas gefehlt?

Ich habe die Orgel nicht so sehr vermisst. Das ist ein bisschen seltsam, aber seit ich Organist in Notre-Dame bin, wurde sie zweimal restauriert, einmal 1992 und dann 2014. Beide Male war das Instrument drei Jahre lang unbespielbar. Dann kam dieser Brand, und natürlich dauerte die Restaurierung dieses Mal etwas länger; doch es fühlte sich genauso an. Wir hatten uns also schon daran gewöhnt, die Orgel nicht zu spielen (lacht). Das ist die eine Sache. Das andere: Ich habe in Notre-Dame viel musiziert – sehr, sehr viel. Bei den Gottesdiensten am Samstag oder Sonntag natürlich, aber auch unter der Woche bei den Proben. Ich habe tagsüber und nachts gespielt – und das ist ein bisschen so, als ob man sich an etwas überessen würde, sodass man es am nächsten Tag nicht mehr sehen kann. Das Gleiche gilt für mich und die Orgel. Ich konnte also gut fünf Jahre lang ohne sie leben. Das war kein Problem. Anders wäre es gewesen, wenn sie zerstört worden wäre, aber sie war ja noch da.

Und was haben Sie gemacht, während Notre-Dame eine Baustelle war?

Dasselbe wie vorher: Ich habe Konzerte gegeben, am Konservatorium unterrichtet und manchmal auch Gottesdienste in Saint-Germain-l’Auxerrois begleitet – sozusagen in der «Vertreterkirche ». Dort gibt es bereits einen Titularorganisten. Meine Kollegen und ich waren also seine Vertreter.

Am 7. Dezember 2024 wurde nicht nur die wieder aufgebaute und renovierte Kathedrale vorgestellt, sondern auch die generalüberholte Orgel. Wie hat es sich angefühlt, erneut vor Publikum dort spielen zu können?

Ich hatte gemischte Gefühle. Natürlich war es eine grosse Freude, doch gleichzeitig war es auch mit Angst verbunden (lacht). Die Kathedrale ist offen, aber noch nicht ganz fertig. Das war schwierig. Man weiss nicht recht, welchen Weg man gehen muss, um zur Orgel zu gelangen. Die Schlüssel waren am Anfang noch nicht da. Ja, es gab eine Menge unangenehmer Dinge. Ich muss sagen, dass ich nicht so gern bei solchen Extraveranstaltungen wie der Einweihung auftrete. Meine Aufgabe ist es eigentlich, beim Gottesdienst in Notre-Dame zu spielen. Das gefällt mir sehr gut, aber diese besonderen Anlässe sind fast zu viel für mich. Es ist wunderbar, dass das normale Leben zurückkehrt – wenn ein «normales» Leben in Notre-Dame überhaupt möglich ist.

Wie klingt das Instrument jetzt?

Ich denke, die Orgel klingt gleich, aber nicht die Kathedrale. Der Nachhall dauert immer noch sieben Sekunden, doch das Echo ist etwas anders. Vorher konnten wir den Widerhall hören und jetzt ist es eher wie ein grosser vorbeifahrender LKW (imitiert das Geräusch). Das ist überraschend.

Also ist es ein Kennenlernen, obwohl es dasselbe Instrument ist?

Ja, genau. Derzeit ist die Sättigung sehr stark. Wir müssen wirklich aufpassen, dass die Orgel nicht zu laut ist. Es kann schnell unangenehm werden. Wir müssen uns dieser neuen Akustik anpassen. Wir können die Orgel also nicht wie früher spielen, sondern müssen länger warten, mehr atmen – es gibt viel zu lernen.

Bei der Wiedereröffnung haben Sie und die anderen Titularorganisten improvisiert. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Es war unmöglich, ein Stück aus dem Orgelrepertoire zu spielen. Die Zeit war zu kurz, nur jeweils eine bis anderthalb Minuten. Und dann mussten wir zum Gesagten, das wir ja vorher nicht kannten, etwas improvisieren.

Sie hörten die Ansprachen und mussten dann passend dazu die Stimmung einfangen?

Genau. Es ist üblich, dass bei einer Orgeleinweihung improvisiert wird.

Zudem hat das Improvisieren an der Orgel in Frankreich ja eine besondere Tradition …

Genau, alle Organisten haben stets improvisiert. Ein berühmtes Beispiel war Claude Balbastre, ein Musiker aus dem 18. Jahrhundert. Als er in der Kirche Saint-Roch angestellt war, hat der Erzbischof von Paris ihm das Spielen verboten, weil die Menschen irgendwann nur noch gekommen sind, um die Orgel zu hören und nicht, um der Predigt zu folgen. Zudem gab es dann in der Kirche viel Lärm. Daher hat er gesagt: Keine Orgel mehr! Diese Tradition des Improvisierens in Frankreich geht jedoch hauptsächlich auf das 19. Jahrhundert zurück, als die Académie de Musique gegründet wurde. Natürlich gab es dort Orgelklassen. Aber durch die Französische Revolution war das ganze Repertoire verloren gegangen. Daher haben die Organisten entschieden: Wenn wir keine Werke haben, müssen wir eben improvisieren. Das war eine Praxis für fast zwei Jahrhunderte. In den Prüfungen mussten die Orgelschüler drei Viertel der Zeit improvisieren und nur ein Viertel interpretieren.

Wie ist es, auf einer Orgel zu improvisieren, auf der man noch nie gespielt hat? Macht das besonders Spass?

Aber klar! Es ist jedes Mal eine schöne Erfahrung. Das ist es, was ich an meiner Arbeit liebe. Eine neue Orgel kennenzulernen ist wirklich wie einen neuen Menschen zu treffen. Man muss auf ihren Charakter hören und eine Kollaboration eingehen – wie ein Kammermusiker. Man kann so viel machen. Selbst wenn eine Orgel nicht gut ist, findet man stets etwas, womit sie schön klingt. Ja, das macht Spass.

Im Juni 2025 werden Sie bei den Internationalen Orgeltagen Zürich zu Gast sein. Wir dürfen uns auf ein Orgelrezital mit Werken von Alexandre Guilmant, Manuel de Falla, Béla Bartók, Louis Vierne und Maurice Duruflé freuen. Und zum Schluss werden Sie improvisieren. Wie ist dieses Programm zustande gekommen?

Natürlich hatte die Kuhn-Orgel grossen Einfluss darauf. Ich versuche immer, etwas zu spielen, was mit dem Instrument in Verbindung steht. Das ist mir sehr wichtig. Zudem ist es für mich interessant, nicht nur das typische Orgelrepertoire einzustudieren, sondern auch etwas wie die Transkriptionen von Manuel de Falla und Béla Bartók, um damit in eine etwas andere Richtung zu gehen. Auf diese Weise kann man die Orgel auf eine neue Weise hören.

Macht es für Sie einen Unterschied, ob Sie in einer Kirche oder in einem Konzertsaal wie der Grossen Tonhalle spielen?

Ja. Der grösste Unterschied ist das Programm. Ich würde de Falla nicht in einer Kirche spielen. Da muss man als Organist vorsichtig sein. Werke von Louis Vierne und Maurice Duruflé wären jedoch möglich. Einmal habe ich auch Wagners «Tristan und Isolde» in einer Kirche gespielt. Das hat sich komisch angefühlt. Aber ich hatte einst auch eine Erfahrung andersherum: Da habe ich in der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles «L’Ascension» von Messiaen aufgeführt. Das ist ein ziemlich statisches Stück. Die Akkorde sind sehr lang und alles ist sehr meditativ. Ich war in der Mitte der Bühne und fühlte mich nicht gut. Ich dachte: Warum schauen die Menschen mich an? Das war nicht die richtige Musik für diesen Ort. Es geht also in beide Richtungen.

Bisher haben Sie noch nie auf der Kuhn-Orgel in der Tonhalle Zürich gespielt. Was haben Sie darüber gehört?

Ich habe schon von einigen Kollegen gehört, dass die Orgel sehr gut klingt. Dieses Jahr komme ich das erste Mal in die Tonhalle. Auch früher habe ich nie auf der Kleuker-Steinmeyer-Orgel gespielt. Ich bin also gespannt und freue mich sehr darauf, die Orgel selbst ausprobieren und hören zu können.

Juni 2025
So 08. Jun
19.30 Uhr

Internationale Orgeltage Zürich: Orgelrezital

Olivier Latry Orgel Guilmant, Falla, Bartók, Vierne, Duruflé, Latry
veröffentlicht: 28.05.2025

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