
Zen oder die Kunst des Bezeichnens
Wenn die Noten ins Haus kommen, ist viel bibliothekarische Arbeit schon erledigt. Nun beginnt der Feinschliff.
Die Aufgaben einer Orchesterbibliothekarin sind vielfältig. Sie plant und organisiert, recherchiert, dokumentiert, ist handwerklich tätig, und regelmässig steht das Bezeichnen auf der Tagesordnung. Genauer gesagt: das händische Einfügen von Bogenstrichen, Dynamik- und Artikulationszeichen in das Notenmaterial mit einem Bleistift.
Die Konzertmeisterin oder der Konzertmeister und in der Folge die Stimmführer* innen von zweiter Geige, Bratsche, Cello und Kontrabass legen für ihre Gruppe eine Bogenstrich-Einrichtung fest, die jeweils mit dem Rest der Streicherregister harmoniert. Die Mitarbeiterinnen der Bibliothek übertragen diese aus den ersten Pulten ins Tutti. Wünsche des Dirigenten bezüglich Dynamik und Artikulation kommen gegebenenfalls hinzu, sie werden aus der Dirigierpartitur übernommen. Das ist eine Geduldsarbeit, die je nach Umfang des Werks, Komplexität der Einrichtung und Zustand der Orchesterstimmen viele Stunden umfassen kann. Für eine neu zu bezeichnende Mahler-Sinfonie mit bis zu 50 Seiten pro Heft dauert das möglicherweise eine ganze Woche.
Eine klar leserliche, gleichmässige Handschrift ist unabdingbar. Man setzt die Zeichen mit weichem Bleistift, der bei Korrekturen in der Orchesterprobe leicht zu radieren ist. Es gilt, den Noten-Lesefluss der Musiker in der Konzertsituation so angenehm und unangestrengt wie möglich zu gestalten, durch ebenso einfache wie präzise Informationen. Die Symbole für Abstrich und Aufstrich werden mittig über dem Notenkopf platziert, und falls dort kein Platz ist, weiter oben oder an einer gut sichtbaren Stelle in geringer Entfernung. Bei musikalischen Kürzungen leitet eine leicht geschwungene Linie das Auge vom Ende des zuletzt gespielten Takts über die Seite bis zum Beginn des neuen Takts – eine Wegweisung, die den Sprung harmonisch und folgerichtig wirken lässt.
Keine Chance für KI
Wenn Aussenstehende von einer solchen Tätigkeit erfahren, wundern sie sich manchmal, warum sie bis heute der Mensch und nicht ein KI-gesteuerter Roboter ausführt. Tatsächlich dürfte es zu relativ schlechten Ergebnissen führen, wenn die Zeichen maschinell in die Stimmen kopiert würden. Zu sehr sind hier menschlich-intelligente Antworten auf individuelle Situationen gefragt. Auch ist eine persönliche Kenntnis des Orchesters von Vorteil – jeder Klangkörper, jede Streichergruppe hat Vorlieben und Gewohnheiten, denen Rechnung zu tragen ist. Und wenn in der Vorlage eine Aufteilung für «divisi»-Stellen (wo einzelne Pulte oder Musiker*innen Unterschiedliches zu spielen haben) angegeben ist, muss diese in jedem Heft individuell angepasst werden.
Ob Zusatzinformationen wie Dynamik und Artikulation übernommen werden, entscheidet sich häufig anhand von Überlegungen zu deren Gültigkeit im Werk, den Wünschen des Dirigenten und denen der Musiker*innen. Diese können manchmal gegenläufig sein (soll jedes Piano zusätzlich hervorgehoben werden? Sicher nicht! Das eine oder andere vielleicht aber doch…).
Berücksichtigt man all diese Erfordernisse, so wird deutlich, dass die Geduldsarbeit zugleich von einer immer wachen Konzentration begleitet sein muss, die das jeweils aktuelle Zeichen, seine ästhetische Ausführung und den Kontext im Blick behält. Mit der Zeit stellt sich dennoch eine gewisse Sicherheit der Hand ein, eine geübte Aufmerksamkeit des Verstandes, die es gestattet, das Denken ein wenig loszulösen und quasi über der Tätigkeit schweben zu lassen. Das gibt ihr bisweilen fast meditative Qualitäten. Und zur besonnenen Geistesübung gesellt sich die Befriedigung, dem Orchester ein im gegebenen Rahmen optimales Arbeitsmaterial zu liefern.